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Jahr A (2022-2023)  
22. Dezember 2022

Blitze über Bethlehem

Kommentar zu Weihnachten 2022 von Winfried Heidrich

In der Sakristei der „Abbaye de Valloires“ in der Picardie hängt am einzigen Haken einer von Dübeln durchlöcherten Wand das Relief einer metallenen Madonna. Die Demut, gar Unterwürfigkeit in der Pose der Maria erkennen wir unschwer wieder aus religiösen Gemälden der Renaissance und des Barock. Die Madonna hängt vor zwei Stromkästen, auf denen jeweils ein Blitz als Zeichen von Gefahr abgebildet ist. Links neben den Stromkästen ein Stab zum Anzünden von Kerzen sowie ein goldenes Tragekreuz.

Statt vor dem Engel der Verkündigung findet sich Maria den Symbolen zweier Blitze gegenüber. Die Blitze irritieren unsere weihnachtlichen Seh- und Hörgewohnheiten, die im Lukasevangelium den Engel Gabriel sagen lassen: „Fürchte dich nicht, Maria; denn du hast bei Gott Gnade gefunden. Siehe, du wirst schwanger werden und einen Sohn gebären, dem sollst du den Namen Jesus geben.“ Und Maria antwortet: „Wie soll das geschehen, da ich keinen Mann erkenne?“ und etwas später: „Siehe, ich bin die Magd des Herrn; mir geschehe, wie du es gesagt hast.“

„Mir geschehe, wie du es gesagt hast.“ ist ein mutiger, inniger Satz. Wie alle Sätze, die aus Vertrauen und Hingabe gesprochen werden, ist er unverfügbar. Und doch wird er seit der Urkirche als Instrument der Unterordnung der Frauen unter ihre Männer und unter den Klerus missbraucht. Das Bild der demütigen, mit sich geschehen lassenden Frau und Mutter ist immer noch Bestandteil säkularer, kapitalistischer Machtverhältnisse. Ist diese Haltung - mit sich geschehen lassen - per se unterdrückend? Kann man auf solche Weise Ja sagend, zu sich selber finden, Freiheit erfahren?

Die Pfeile auf den Stromkästen, vor denen die Figur auf dem Bild steht, deuten auf Zwiespalt und Ambivalenz des Lebens hin: der Mensch ist in seinem Denken und Handeln hin- und hergerissen. Zwischen Möglichkeiten wählen, sich in einen offenen Raum begeben, sich inneren Prozessen stellen, das gehört zu jeder persönlichen Freiheitsgeschichte. Was soll ich tun? Was soll ich lassen? Welchen Weg gehe ich? Vielleicht ist alles ganz anders? Was sagt der Verstand meinem Gefühl? Die beiden Pfeile haben zugleich Beunruhigendes wie Herausforderndes. Sie können uns keiner Eindeutigkeit versichern. Irgendwo zwischen ihnen möge ein Stern leuchten.

Die Offenheit, Uneindeutiges - wie zwischen zwei Blitzen - auszuhalten, nennt der Islamwissenschaftler Thomas Bauer „Ambiguitätstoleranz“. Gerade weil das Leben nicht eindeutig ist und weil es zwischen Menschen immer neu ausgehandelt werden muss, sind wir befähigt, das Anderssein und Fremde bei anderen anzunehmen. Aufgeklärte Religiosität steht in einer ideologisierten Welt für Vielfalt und Toleranz. „Zwei Wahrheiten nähern sich einander. Eine kommt von innen, eine kommt von außen. Wo sie sich treffen, hat man eine Chance, sich selbst zu sehen.“ (Tomas Tranströmer)

Wie kommt ein anderer - uns fremder - Mensch durch Blitze und Mehrdeutigkeiten hindurch zu einem, zu seinem Ja? Keiner kann die Lebensfragen eines anderen beantworten. Doch das Ja eines Menschen zu sich selbst wird immer zu tun haben mit der geistigen und physischen Gastfreundschaft von uns anderen.

Winfried Heidrich

Winfried HEIDRICH
 
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