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24. Februar 2022

Deine Splitter und mein Balken

Kommentar zum 8. Sonntag von Winfried Heidrich (27.2.2022)

Im sechsten Kapitel des Lukasevangeliums merkt Jesus an, wie gegensätzlich der Mensch sich selber und die anderen wahrnimmt: „Warum siehst du den Splitter im Auge deines Bruders, aber den Balken in deinem eigenen Auge bemerkst du nicht?“ (Lk 6,41) Jesus macht seine Zuhörer darauf aufmerksam, dass sie in ihrer Bewertung von richtig und falsch, von gut und böse, von tun und lassen von Blindheit geleitet werden, da „ihr Balken“ im eigenen Auge eine freie Sicht aus sich heraus und einen unvoreingenommenen Blick auf den anderen verhindert.

Das eigene Unvermögen, im Gegenüber auch etwas Verdrängtes (Splitter) von sich selber zu sehen, ohne es aber als solches erkennen zu können, gebiert häufig zwischenmenschliche Konflikte und Irrtümer. Denn was ich nicht sehe oder verdränge, ruht nicht. „Es“ agiert im Umgang mit den „Splittern“, die ich in den Augen der anderen wahrnehme. Die Splitter ihrer Ängste, Wünsche und Verhaltensweisen, die mir zum Dorn im eigenen Auge werden können, sind möglicherweise auch zu mir gehörende Splitter.

Aus dieser mit heutigem Wissen „selbstverschuldeten Unmündigkeit“ (I.Kant) führen Wege der Selbsterkenntnis. Wer sich seine Blindheit bewusst macht, Ambivalenzen und innere Widersprüche zulässt - ich bin immer gleichzeitig Splitter und Balken - wird mit den Splittern im Auge der anderen anders umgehen können. Er wird, und darauf kommt es Jesus an, nicht richten: “Verurteilt nicht, dann werdet auch ihr nicht verurteilt werden.“ (Lk 6,37)

Unsere Wahrnehmung der Welt ist geleitet von unserem „Unbewussten“ (Balken) schreibt 1900 Sigmund Freud: der Mensch ist nicht „Herr im eigenen Haus … denn solange du dir das Unbewusste nicht bewusst machst, wird es dein Leben bestimmen.“ Dabei es gibt mehr als nur ein „persönliches Unbewusstes“. Freuds Zeitgenosse, Carl Gustav Jung, war der Überzeugung, dass es auch ein „kollektives Unbewusstes“, gibt. So ist religiöse Sozialisation in Lehre und Ritual immer auch Arbeit am kollektiven Unbewussten.

Zum Beispiel ist eine über Jahrhunderte eingebläute Dämonisierung der Sexualität durch die katholische Kirche zum kollektiven Unbewussten geworden und prägt bis heute Gesellschaften und Menschen. Solange die Kirche sich mit ihrem Anspruch, die Wahrheit zu besitzen, weiterhin schachmatt setzt, wird sie nicht fähig sein, ihre sichtbare Widersprüchlichkeit im Umgang mit der Sexualität zu erkennen und davon abzulassen. Stolz das silberner Kreuz ihres Religionsstifters auf der Brust nach außen tragend, weiß oder will sie nicht wirklich wissen, was sie zwei Etagen tiefer (um)treibt. So lassen ihre jüngsten Geständnisse sexueller Gewalt gegenüber Erwachsenen und Kindern den theologisch-dogmatischen Kern ihrer Leibfeindlichkeit weiterhin unberührt.

Wie soll nun die jetzige Synode vermögen - nicht nur in Fragen der Sexualität - dem klerikalen Überbau der katholischen Kirche den Balken vor seinen Augen zu lösen? Es gibt keinerlei Absprachen, dass das, was die in die Synode berufenen Frauen und Männer erarbeiten, verbindlicher Bestandteil von substantiellen Veränderungen werden kann: etwa wenn die Weihe der Frau, sexuelle Identitäten, der Pflichtzölibat oder die die Aufhebung des Gehorsams verhandelt wird. Vor solchen Absprachen läge allerdings die Preisgabe so mancher dogmatischer Wahrheiten und Ewigkeitspositionen. Diese Preisgabe könnte für die Kirche zu einem befreienden Machtsterben - Sterben, nicht Streben - und zu einer neuen Erfahrung in der Nachfolge Jesu Christi werden.

Winfried Heidrich

 
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