Irmgard Miller: Was nicht alles möglich ist! Erfahrungen einer Frau in der Seelsorge.
Religiöses Buch des Monats September 2024
Was für ein ermutigender Perspektivenwechsel! Wer heute über Religion und Glauben spricht, beklagt meist vor allem, was in der Kirche alles nicht möglich ist. Irmgard Millers Buch über die „Erfahrungen einer Frau in der Seelsorge“ trägt dagegen den Titel „Was nicht alles möglich ist!“ Natürlich greift diese Formulierung – wie auch das ganze Buch – weiter aus als nur auf die aktuelle kirchliche Situation hin, doch stellt die Autorin durchaus auch fest: „Möglich wäre, nein: Möglich ist auch in unserer aktuellen kirchlichen Lage weit mehr, als wir vielleicht meinen. … Wenn wir in der Seelsorge ganz konkret bei den Menschen sind. Gerade die Frauen hätten, nein, sie haben da sehr viel zu geben!“ Weil Irmgard Miller Seelsorge eben nicht auf geweihte Amtsträger oder hauptamtlich Angestellte beschränken will. Nach ihrer Überzeugung (und Erfahrung) sind alle Christen dazu aufgerufen, den Menschen von heute die befreiende Botschaft des Evangeliums zu bringen. „Seelsorge kann ja nicht bloß von einem Titel, einer Weihe, einem Studium abgeleitet werden. Sie zeigt sich im Tun, wird konkret in lebendigen Beziehungen und manchmal sind es gerade die ‚einfachen Menschen‘, denen die Gabe der einfühlenden Seelsorge geschenkt ist.“
Der Begriff Seelsorge beschreibt wirklich genau das, worum es geht: um die Zusage von Gottes Liebe bei schweren Erkrankungen, seelischen Belastungen, in Glaubenszweifeln und Sinnsuche, bei Verlusterfahrungen und Trauer. Seelsorge beinhaltet deshalb immer eine große Verantwortung, sie darf nie oberflächlich sein. Seelsorge auf den Spuren Jesu braucht vielmehr „das Sich-Einfühlen auf Augenhöhe.“ Natürlich hilft in schwierigen Situationen der Seelsorge eine fundierte Ausbildung, doch sollten sich alle anderen davon nicht entmutigen lassen. Irmgard Miller ist nach jahrzehntelanger Erfahrung überzeugt: das Entscheidende in der Seelsorge kann man ohnehin nicht „machen“, es geht vielmehr darum, Räume dafür zu schaffen, dass das Wirken von Gottes Gnade erfahren werden kann; oft reicht es dazu, wenn wir uns „dem Wirken des Geistes nicht in den Weg stellen“. Seelsorge wird deshalb auch nicht als Einbahnstraße begriffen: Auch die Seelsorgenden machen ja diese Erfahrungen des Wirkens Gottes an den Menschen, erleben immer wieder, dass für Gott nichts unmöglich ist.
Die Autorin schildert im Hauptteil 30 beispielhafte Begegnungen, die sie in der Seelsorge in verschiedenen Situationen (bei Besuchen im Krankenhaus, bei Seminaren, Exerzitien, in persönlichen Gesprächen der Lebensberatung…) gemacht hat. Im Anschluss an die Beschreibung des Erlebten werden dann über den konkreten Einzelfall hinausreichende allgemeine Einsichten formuliert: über die heilsame Kraft des Gebets oder über die Bedeutung des Lebenszeugnisses neben der Wortverkündigung; über die befreiende Erfahrung der Vergebung oder über die Wichtigkeit, Abschiede auch zu betrauern. Immer wieder konnte Irmgard Miller die Erfahrung machen, dass gerade in den schwierigsten Situationen der Heilige Geist hilft; dass der Ruf Gottes uns in jeder Lebenslage erreichen kann; dass uns scheinbar schwierige Lebensumstände manchmal ein Angebot für unser Inneres machen; dass Gott niemanden aufgibt und jede einzelne Person in ihrer ganz persönlichen Situation anspricht.
So kann die Lektüre die Leserinnen und Leser tatsächlich, wie von der Autorin gewünscht, „inspirieren, sich auf den Weg zu einer tieferen Selbstfindung und zur Neuordnung des Lebens im Lichte des christlichen Glaubens zu machen“. Man lernt aus dem schmalen, aber gehaltvollen Buch erstaunlich viel über den Lebens- und Glaubensweg – sowohl den eigenen wie auch die möglichen Wege anderer.
Als „Religiöses Buch des Monats“ benennen der Borromäusverein, Bonn, und der Sankt Michaelsbund, München, monatlich eine religiöse Literaturempfehlung, die inhaltlich-literarisch orientiert ist und auf den wachsenden Sinnhunger unserer Zeit antwortet.