Wer ist Jesus für uns?
Kommentar zum 4. Sonntag in der Osterzeit von Sr. Danièle Faltz (11.5.2025)
Wer ist Jesus für uns, für einen jeden von uns persönlich, und in welchem Verhältnis stehen wir zu ihm?
Diese zentrale Frage wird in den Sonntagsevangelien von Zeit zu Zeit explizit aufgeworfen, so auch an diesem Sonntag, wo Jesus sich als Guten Hirten bezeichnet und Menschen, die ihm zuhören und nachfolgen, sich in der Rolle der Schafe befinden.
Das können wir moderne Menschen schwer nachvollziehen. Ich denke immer an den wiederholten Rat meines Vaters an uns Kinder: “Ihr dürft nicht zu Herdenmenschen werden!” Heute verstehe ich besser, was er meinte: seine Generation hat erlebt, wie der Herdentrieb zu Krieg und Verwüstung in der ganzen Welt geführt hat. Diese Gefahr ist heute nicht gebannt.
Manche von uns tun sich schwer mit dem Bild von Jesus, dem Hirten. Kaum jemand von uns kennt einen wahren Hirten, der mit seinen Schafen von Weide zu Weide wandert, der für sie sorgt und für sie da ist. Hirten gehören nicht zu unserem Alltag und das Bild hilft uns also nur bedingt, unser Verhältnis zu Jesus auszudrücken.
Wenn man allerdings vom Vergleich mit den Schafen absieht, stehen in diesem sehr kurzen Sonntagsevangelium wichtige Sätze über das Verhältnis der Christen zu Jesus: Sie hören auf seine Stimme, er kennt sie, sie folgen ihm nach, er gibt ihnen ewiges Leben, niemand kann sie ihm entreißen, denn sie sind ihm vom Vater gegeben. Eigentlich ist damit alles gesagt!
Aber solche Sätze sind schwer vereinbar mit dem Lebensgefühl moderner Menschen. Wir wollen autonom sein, unabhängig, so wenig wie möglich auf Dauer gebunden. Der Gemeinschaftssinn schwindet vor dem Individualismus. Wir leben von unserer Mitte her, und wichtig ist zuerst, was gut und fördernd für mich ist, für die Meinen. In den letzten Jahren scheint das der Trend zu sein, in unserer Gesellschaft, nicht selten auch in der Kirche.
Doch die Frage stellt sich: kann ich wirklich Christ sein, ohne mich zu binden, an Jesus, an Gott, an Menschen, ohne mein Leben in den Dienst der Gemeinschaft aller Menschen zu stellen, mit allen Konsequenzen? Kann ich Christ sein, ohne mein Leben wahrzunehmen als Geschenk Gottes, nicht nur mir selbst geschenkt, sondern auch meinen Mitmenschen durch Christus vom Vater geschenkt. Kann ich Christ sein ohne Sehnsucht nach definitiver Geborgenheit in Gottes Liebe, ohne Hoffnung auf ewiges Leben?
Wahres Christsein ist und bleibt eine Herausforderung, der wir nie wirklich gewachsen sind. Doch im täglichen Leben ist diese Aufgabe zu bewältigen. Denn wir brauchen nur die Kraft „Ja“ zu sagen zu dem, was heute ansteht, was seine Stimme uns heute sagt. Wir brauchen nur den einen Schritt zu wagen, der heute gefordert ist, um den Blickkontakt mit Jesus, dem Guten Hirten, nicht zu verlieren. Er geht uns voraus. Was er gelebt hat, ist für uns Programm. Wir gehen in seinen Fußstapfen. Dabei kennt er uns, so wie er Petrus kannte. Er weiss um unsere Schwachheit und Feigheit genau so wie um unseren Grossmut und unsere Liebesfähigkeit.
Deshalb lässt er uns teilhaben an der Quelle seiner Kraft: „Mein Vater ist größer als alle; der Vater und ich sind eins“. Später, im selben Johannesevangelium, lesen wir im 15. Kapitel : „Ich habe euch Freunde genannt, denn ich habe euch alles mitgeteilt, was ich von meinem Vater gehört habe“.
Diese Freundschaft ist eine tiefe Verbundenheit, die Jesus uns anbietet. In dieser Freundschaft sind wir zugleich frei und gebunden. Sie befähigt uns, den Menschen zu dienen mit der Liebe, die aus Gott kommt, die uns im Überfluss geschenkt ist.